Das Leben der Mata Hari
Robert North hat sich in seiner neuen Choreographie ganz der mythischen Figur Mata Hari verschrieben. Die Uraufführung findet Ende März im Theater Mönchengladbach statt. Die Ballett-Freunde des Theaters unterstützen die Choreografie finanziell und begleiten die Entstehung des Stückes mit Veranstaltungen und Informationen.
Heute stellen wir Ihnen das Leben der Mata Hari vor und danken Regina Härtling – Dramaturgin Ballett – herzlich für ihren spannenden Beitrag.
Mata Hari – Tanz zwischen den Fronten
Diese Nachricht verbreitete sich in Windeseile – nicht nur in den Straßen von Paris, sondern rund um den Globus:
Die Tänzerin Mata Hari, angeklagt der Spionage für Deutschland, wurde am 15. Oktober 1917 in Vincennes hingerichtet. Berichten zufolge hat sie – von ihrer Unschuld überzeugt – dem Tod ins Gesicht gesehen und sich dem zwölfköpfigen Erschießungskommando ohne Augenbinde gestellt.
Etwa acht Monate zuvor, am 13. Februar 1917, war Mata Hari verhaftet worden. Als Gefangene Nr. 721 44625 verbrachte sie die letzten Monate ihres abenteuerlichen Lebens im Frauengefängnis Saint-Lazare.
Wer war diese Frau voller Widersprüche, die sich seit jeher mit der Aura des Geheimnisvollen umgab?
Schmuck- und Kostüme vom Ballettabend Mata Hari
Sehnsuchtsort Paris
Spätestens seit der Weltausstellung im Jahr 1900 war die französische Hauptstadt der Mittelpunkt der Welt. Die schönste, reichste und sinnlichste Stadt, Geburtsstätte alles Neuen, zog Künstler und Intellektuelle, Dandys und Kurtisanen, Geschäftsleute und Spekulanten magisch an. Auf den prächtigen Boulevards, in Salons und Kasinos, Theatern und Varietés spiegelte sich das glänzende Leben der Belle Epoque.
Der richtige Ort für eine selbstbewusste Frau, die ein unabhängiges Leben führen will. Diese Frau kommt 1904 mittellos nach Paris und mietet sich im Grandhotel als Lady MacLeod ein. Sie ist 28 Jahre alt, nach einer gescheiterten Ehe zum Neuanfang entschlossen.
Doch welche Möglichkeiten hat eine moderne, emanzipierte Frau um 1900? Sie ist faktisch geschäftsunfähig, ohne bürgerliche Rechte. Lediglich einigen Künstlerinnen, Intellektuellen und Kurtisanen gelingt es, sich eine gewisse gesellschaftlich akzeptierte Unabhängigkeit und Wohlstand zu erkämpfen.
Wer war Lady MacLeod?
Sie war die Gattin eines Offiziers der Kolonialtruppen, lebte mit ihm fünf Jahre in Indonesien und hatte zwei Kinder. Was in dieser Kürze banal anmutet, gleicht jedoch einem Roman.
Margaretha Geertruide Zelle, geboren am 7. August 1876 im niederländischen Leeuwarden, will etwas aus ihrem Leben machen. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, die Mutter war früh gestorben. Margaretha und ihre Brüder kommen bei verschiedenen Verwandten unter. Eine Ausbildung als Kindergärtnerin bricht Margaretha ab. Über die Gründe lässt sich spekulieren – es heißt, der Schulleiter habe sich in sie verliebt. Welche Perspektive bleibt ihr? Heirat – aber nicht, um gelangweilt zu versauern, sondern um in exotischer Ferne Neues, Spannendes zu erleben.
Als 19-jähriges Mädchen lernt sie den 20 Jahre älteren Rudolf MacLeod durch eine Zeitungsannonce kennen: „Offizier aus Niederländisch-Ostindien, zurzeit auf Heimaturlaub, sucht die Bekanntschaft eines netten Mädchens zwecks späterer Heirat. Vermögenssituation gleichgültig.“ Wie sich herausstellt, hatte ein Freund die Anzeige ohne Wissen des Betroffenen aufgegeben – dennoch antwortet Rudolf MacLeod auf jenen Brief, der ein Foto enthält, das ihn sofort fesselt: die dunklen Augen, die Haarpracht, der leicht abwesende Blick. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Dreieinhalb Monate nach dem Kennenlernen heiratet Margaretha, die ein Faible für Uniformen hat, ihren „Märchenprinzen“ – und stürzt sich in ein Abenteuer, dessen Dimension sie nicht abschätzen kann.
Denn der Traum vom paradiesischen Leben in Indonesien wird zum Alptraum. Die Realität in der subtropischen Kolonie entspricht nicht dem, was Margaretha sich in ihrer blühenden Fantasie ausgemalt hatte. Die Beziehung, zunehmend von Konflikten und Streitigkeiten überschattet, wird durch den Tod des zweijährigen Sohnes zusätzlich belastet. Das Kind wurde – vermutlich von einer Hausangestellten – vergiftet. Die einjährige Tochter zeigt ebenfalls Symptome einer Vergiftung, überlebt aber.
1902 – Rudolf MacLeod ist inzwischen pensioniert – kehrt die Familie nach Amsterdam zurück. Doch so sehr sich Margaretha nach Europa gesehnt hatte, so bitter muss sie erkennen, dass ihre Ehe endgültig zerbrochen ist. Ihr Mann verlässt sie, zahlt keinen Unterhalt und nimmt die inzwischen vierjährige Tochter zu sich.
Wie soll Margaretha MacLeod, geb. Zelle, diese Lebenssituation meistern?
Aktionstag Mata Hari und Proben
Eine neue Identität
Es ist der Zeitgeist der Belle Epoque, der das Phänomen Mata Hari ermöglicht.
Das Bedürfnis nach allem Exotischen, Neuartigen, die Sehnsucht nach dem Besonderen, die Melange von Geschäfts- und Halbwelt und die blühende Pariser Kunstszene sind die Basis ihrer „Geschäftsidee“.
Margaretha hatte schon in Indonesien ihren Künstlernamen erfunden: Mata Hari, was „Auge des Tages“, sinngemäß also „Sonne“ bedeutet. Sie hatte sich mit fernöstlichen Bräuchen und Tänzen vertraut gemacht und auch die javanische Sprache erlernt. Hieraus konnte sie nun Kapital schlagen – als Tänzerin, als Künstlerin.
Bereits ihre ersten Auftritte mit fernöstlichen Tanzdarbietungen hinterließen einen überwältigenden Eindruck. In einem erotischen, spannungsgeladenen Tanz enthüllte sich die schöne Frau für den Gott Shiva. Das Publikum war von der Sinnlichkeit und Entrücktheit der Darbietung beeindruckt. Ein Journalist schrieb: „Diese unbekannte Tänzerin aus fernen Gegenden ist eine fremdartige Person. Schon wenn sie sich nicht bewegt, fasziniert sie, doch wenn sie tanzt, ist sie noch geheimnisvoller.“
Ihre nächsten Auftritte fanden am 13. und 14. März 1905 im Museum für fernöstliche Kunst von Émile Guimet statt. „Sie tanzte mit Schleiern und juwelengeschmückten Büstenhaltern – und das ist fast alles. Niemals vor ihr hat es jemand gewagt, mit dieser bebenden Ekstase und ohne Schleier vor den Göttern zu verweilen. Und mit welch wundervollen Bewegungen, gewagt und züchtig zugleich“, konnte man in der Pariser Presse lesen.
Sie hat den Durchbruch geschafft. Die Kunstfigur Mata Hari ist kreiert – ihre neue Identität.
Auf der Pressekonferenz beantwortet sie die Fragen in fünf Sprachen: Französisch, Deutsch, Englisch, Niederländisch und Javanisch. Sie gibt Auskunft über den Ursprung ihrer Tänze und die Wurzeln der indischen Folklore. „Möchten Sie hören, wie ich meine Kunst begreife? Es ist ganz einfach mein Glaube… Die heiligen brahmanischen Tänze sind Symbolhandlungen, und alle Bewegungen entsprechen einem Gedanken“, erklärt Mata Hari. „Der Tanz ist eine Dichtung, und jede Bewegung ist ein Wort.“
Mata Hari macht bald auch außerhalb Frankreichs Furore, unterstützt von dem Impresario Gabriel Astruc. Wie ist eine solche Karriere möglich, ohne jede Tanzausbildung? Das Revolutionäre, Moderne bestand darin, dass sie sich traute, nackt aufzutreten und damit die Sexualität enttabuisierte. Der Striptease war geboren – jedoch als rituelle, mythische Handlung zu Ehren einer Gottheit.
Bewundert, verehrt und umschwärmt verkehrt Mata Hari in den besten Kreisen der Gesellschaft, hat zahllose Affären mit hochrangigen Diplomaten und Offizieren, reist als Künstlerin durch ganz Europa – eine freizügige Lebensart, die bürgerlichen Moralvorstellungen widerspricht.
Dass sie nicht nur exotische Tänze erfindet, sondern auch ihre eigene Vergangenheit, manches im Ungewissen lässt oder es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und sich in Widersprüche verstrickt, wird ihr später zum Nachteil gereichen.
H 21
In den Schrecken des Ersten Weltkriegs geht die Welt der Belle Epoque unter.
Mata Hari verliert den Boden unter den Füßen, ihr geplantes Engagement am Metropoltheater in Berlin kommt wegen des Kriegsausbruchs nicht mehr zustande. Sie reist zunächst nach Amsterdam, dann nach Den Haag und Paris. Wenngleich sie den Zenit ihres Ruhms überschritten hat, will sie das Leben weiterhin genießen.
Mata Hari versucht, zwischen den Fronten zu tanzen – ein Spiel mit dem Feuer, das außer Kontrolle gerät.
Ist es Leichtsinn, Abenteuerlust, Naivität, Hybris – oder schlicht Geldnot? Sie tritt im Spätherbst 1915 in den Dienst des deutschen Geheimdienstes. Der Chef des deutschen militärischen Nachrichtendienstes trifft sich mit Mata Hari in Köln und lässt sie in einem siebentägigen Schnellkurs zur Agentin ausbilden. Ihr Deckname: H 21. Über das deutsche Konsulat in Amsterdam erhält sie 20.000 Francs Startkapital.
Viele verwirrende Details über Mata Haris Aktivitäten während der Kriegsjahre, über ihre Reisen quer durch Europa, ihre Begegnungen und Liebschaften, meist mit Offizieren, deren Nationalität ihr gleichgültig ist, sind bekannt. Doch hat sie wirklich die Absicht, ernsthaft und zielgerichtet Spionage zu betreiben?
Ein Puzzle von Ereignissen lässt Mata Hari ins Visier der französischen Justiz geraten: Ein Besuch der Deutschen Botschaft in Madrid, ein Telegramm des Militärattachés dieser Botschaft an das deutsche Konsulat in Amsterdam, das von den Briten abgefangen und entschlüsselt wird, Hinweise des britischen Geheimdienstes an den französischen, Geldzahlungen an Mata Hari aus dem Ausland. Der französische Geheimdienst wirbt nun seinerseits um Mata Haris Mitarbeit mit dem Ziel, sie durch einen Scheinauftrag als feindliche Agentin zu überführen. Sie tappt in die Falle. Viele Indizien sprechen gegen sie.
Im Verlauf des Gerichtsprozesses schildert Mata Hari in einem Brief an den Untersuchungsrichter Pierre Bouchardon ihr Identitätsproblem und erklärt, dass Mata Hari und Madame Zelle-MacLeod zwei völlig verschiedene Frauen seien: „Heute bin ich aufgrund des Krieges und meines Passes gezwungen, mit dem Namen Zelle zu unterschreiben und zu leben, aber diese Frau kennt niemand. Ich hingegen halte mich für Mata Hari. Zwölf Jahre habe ich unter diesem Namen gelebt. Ich bin in allen Ländern bekannt, und ich habe überall Beziehungen. Was Mata Hari – der Tänzerin – erlaubt ist, ist Madame Zelle-MacLeod gewiss nicht erlaubt. Was Mata Hari widerfährt, widerfährt Madame Zelle bestimmt nicht. Mata Hari und Madame Zelle können nicht auf dieselbe Art und Weise leben und handeln.“
Mit dieser Argumentation konnte sie freilich den Spionagevorwurf nicht entkräften. Es war erwiesen, dass sie dem deutschen Geheimdienst angehörte. Hochverrat.
Mata Hari war die Ikone der Belle Epoque, eine Femme fatale, eine Hochstaplerin, mehr dem schönen Schein als der schnöden Realität zugetan, als Frau von Welt auf großem Fuß lebend und dafür alles riskierend – aber kaum eine professionelle Spionin.
Sie hat ihren eigenen Mythos erschaffen und dafür mit dem Leben bezahlt.
Auszug aus dem Brief vom 5. Juni 1917 von Mata Hari an Pierre Bouchardon, Untersuchungsrichter
Herr Hauptmann,
es gibt noch etwas, das ich Sie zu berücksichtigen bitte: Mata Hari und Madame Zelle-MacLeod sind zwei völlig verschiedene Frauen.
Heute bin ich aufgrund des Krieges und meines Passes gezwungen, mit dem Namen Zelle zu unterschreiben und zu leben, aber diese Frau kennt niemand.
Ich hingegen halte mich für Mata Hari. Zwölf Jahre habe ich unter diesem Namen gelebt. Ich bin in allen Ländern bekannt, und ich habe überall Beziehungen.
Was Mata Hari – der Tänzerin – erlaubt ist, ist Madame Zelle-MacLeod gewiss nicht erlaubt. Was Mata Hari widerfährt, widerfährt Madame Zelle bestimmt nicht. Die Menschen, die sich an die eine wenden, wenden sich nicht an die andere. Mata Hari und Madame Zelle können nicht auf dieselbe Art und Weise leben und handeln.
Mata Hari ist gezwungen, sich zu verteidigen. Das habe ich aufgrund von Verlusten gelernt. Wo auch immer ich tanze, werde ich gefeiert; ich liebe meinen Schmuck und meine Pelze.
Aber da ich überall eine Fremde bin und einem kleinen neutralen Land angehöre, kann ich mich nur selbst verteidigen.
Nun gut, Mata Hari hat die Chance gehabt, sich ein wenig schadlos zu halten, und sie hat sie genutzt. Dieser ganze Brief soll Ihnen nur noch einmal klarmachen, dass all das, was passiert ist, Mata Hari und nicht Madame Zelle zugestoßen ist.
Und in Paris war es Mata Hari, die gezwungen war, ihre Interessen wahrzunehmen. Madame Zelle hatte damit nichts zu tun. Ich bitte Sie, Herr Hauptmann, dies zu berücksichtigen und mich nicht zu hart zu bestrafen. Denken Sie daran, dass ich mein ganzes Leben als Mata Hari gelebt habe. Dass ich denke und handle wie sie. Ich verliere – ich gewinne – ich verteidige mich, wenn man mich angreift – ich füge mich, wenn mir keine andere Wahl mehr bleibt…
Hochachtungsvoll
Mata Hari
Aktionstag Mata Hari des Vereins
Am Aktionstag Mata Hari hat der Verein 50 Mitglieder im Theater begrüßt. Neben einer Probe zum neuen Ballettabend von Robert North erhielten die Mitglieder einen Einblick in das Leben von Mata Hari – vorgetragen von Regina Härtling (Dramaturgin Ballett), konnten sich die Kostüme und Schmückstücke anschauen, präsentiert von Victoria Bröcker und erhielten im Fundus durch Manuel Gross (Ballett Manager) einen Einblick in das Theater. Weitere Informationen zum Aktionstag finden Sie [→ hier.
Premiere von Mata Hari ist am 26.03.2023 am Theater in Mönchengladbac. Noch gibt es Karten für die Premiere. Alle Termine finden Sie auf der [→ Webseite des Theaters.
Text: Regina Härtling
Fotos/Videos: Georg Tönnissen / Jochen Kolb
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